Management Berater Alexander Haasper sieht im methodischen Umgang mit Komplexität Chancen für Wettbewerbsvorteile und Innovation – allein die reine Reduktion von Komplexität  sollte nicht das Ziel sein. 

1. Einen schönen guten Tag Herr Haasper. Sie haben im letzten Jahr mit Ihrem Geschäftspartner Carsten Fabig ein Buch zum Thema Complexity Management veröffentlicht. Können Sie zusammenfassen, warum dieses Buch lesenswert ist?

Das Buch handelt, wie der Titel mit dem Kunstwort „Complexigence“ schon andeutet, vom intelligenten Umgang mit Komplexität im Unternehmen. Ich denke, dass es uns mit diesem Buch gelungen ist, erstmalig die für die Praxis wesentlichen Facetten von Komplexitätsmanagement in einem Werk zu beleuchten. Meiner Meinung nach ist es vor allem wichtig, die Implikationen für den alltäglichen Umgang mit Komplexität aufzuzeigen. Wir hoffen, dass uns dies mit dem Praxisbezug, den wir über jeden Autor in seiner jeweiligen Thematik zu Strategie, Führung, Projektmanagement, Wissensmanagement etc. eingebracht  haben, zu einem großen Teil gelungen ist. Dies bestätigen auch die ersten Feedbacks unserer Kunden und Leser.

2. Welche Erfahrungen im Umgang mit Komplexität und Impulsen, die Sie in früheren Projekten oder Anstellungen gemacht haben, haben Sie in Ihrer Vorgehensweise und Arbeit am meisten beeinflusst?

In der Praxis hat mich maßgeblich ein internationales Großprojekt geprägt, bei dem wir mitten im Projekt – quasi auf halber Strecke – einen großen Einschnitt gemacht haben. Das gesamte Projekt wurde nach einer zunächst funktionsbezogenen Aufbauorganisation neu bezüglich der Deliverables und Rolloutregionen umstrukturiert. Trotz der engen Timeline und zu erwartenden Widerstände aufgrund von Mehrbelastung der Mitarbeiter während der Umstellung haben wir es gewagt, ein bestehendes, über die Phasen ineffizient gewordenes Muster zu durchbrechen und das Projekt über Prototypen und Piloten sukzessive auf die Deliverables auszurichten.
Des Weiteren wurde ich nach meinem Studienschwerpunkt „Paralleles Rechnen und Komplexitätstheorie“ vor ca. 10 Jahren sehr durch Professor Dr. Kruse motiviert, der seit vielen Jahren zum Thema Komplexitäts- und Veränderungsmanagement veröffentlicht: Die Fragen und Antworten zu: „Wie laufen Veränderungsprozesse und welchen Einfluss hat dabei die Komplexität“ haben maßgeblich meine Motivation und mein Denken zum Thema Komplexität bestimmt.

3. Was sind in der heutigen Zeit Treiber für die steigende Komplexität der Unternehmen?

Meiner Meinung nach bedeutet Komplexität nicht primär die Anzahl der Dinge, die gemanagt werden müssen, sondern vielmehr die Vernetzung der einzelnen Elemente eines Unternehmens. Wenn also die Vernetzung steigt, nimmt auch die Komplexität zu. In der heutigen Zeit sind die wichtigsten Treiber für die Komplexität eines Unternehmens die Produktvielfalt, die Kundensegmente, die bedient werden sowie die Kombination der Produkte und Services, die zu den Produkten gehören. All diese Faktoren bestimmen die Komplexität zum Kunden, die erforderlich ist um nachhaltig erfolgreich zu sein.

4. Wie können Unternehmen den Überblick über komplexe Strukturen behalten? Welche Methoden gibt es?

Nach unserer Erfahrung muss zwischen Lösungs- und Umsetzungskomplexität unterschieden werden. Die grundlegende Methodik ist dabei, dass sich die Lösungskomplexität auf den Kunden bezieht, während die Umsetzungskomplexität intern vom Unternehmen gesteuert wird. Die Dynamik im Unternehmen spielt für die Steuerung der Komplexität eine wesentliche Rolle, denn wenn die Dynamik zu groß ist, kann Komplexität nicht mehr gesteuert werden. Systeme können nur gesteuert werden, wenn sie kontrollierbar, d. h. stabil, sind.

5. Wie beeinflusst die zunehmende Globalisierung von Unternehmen die Komplexitätsstrukturen?

In Bezug auf Globalisierung ist es ausschlaggebend, welche Industrie betrachtet wird. Unternehmen, die einem Margendruck ausgesetzt sind, müssen sich mehr mit Outsourcing Themen befassen, also im Wesentlichen dem Management saubere Schnittstellen zu gewährleisten. Unternehmen im Mittelstand wiederrum, die zunehmend auf den globalisierten Weltmarkt drängen, werden sich eher auf Themen im Bereich Mergers & Acquisitions bzw. Business Development fokussieren. Sie müssen sich Innovationen öffnen, gleichzeitig aber aufpassen, dass sie rechtzeitig standardisieren, da sonst ihre Prozesse zu komplex werden.

6. Komplexitätsmanagement und Flexibilität – zwei Begriffe, die sich ausschließen?

Gerade komplexe Strukturen stehen quasi synonym für Varietät, also Variantenvielfalt im Umgang mit ihrer Außenwelt. Insofern schließt sich Komplexität und Flexibilität überhaupt nicht aus. Im Gegenteil: Nur eine an den Kundenbedürfnissen ausgerichtete Struktur, die modular und standardisiert die Leistung aus der Wertschöpfungskette zum Kunden bringt, wird auch vom Kunden und Mitarbeiter als flexibel wahrgenommen werden können.

7. Welche Rolle spielt Komplexitätsmanagement in Bezug auf Innovationsprozesse?

Aus meiner Sicht ist es eine wesentliche Voraussetzung für Innovation, dass ein Unternehmen Kreativität systematisch fördern kann. Denn Innovation bedeutet in der heutigen Zeit vor allem, dass verschiedene Disziplinen zu neuen Lösungen für den Kunden zusammengeführt werden. Neben aller Kreativität müssen diese jedoch vor allem marktfähig sein. Das setzt u. a. voraus, dass Komplexität im Unternehmen bewusst erhöht und in reife Lösungen überführt werden kann.

8. Wie können moderne Konfigurationssysteme dabei helfen, generell die Komplexität in den Griff zu bekommen?

Konfigurationssysteme zielen meist auf die Lösungskomplexität ab, d. h. das Management von Produkt- und Serviceeigenschaften. Diese Lösungskomplexität muss stabil gehalten werden. Denn gerade wenn Innovations- und Produktzyklen relativ kurz sind, müssen solche Systeme schnell adaptierbar sein. Nur so lässt sich ein nachhaltiger Nutzen daraus erzielen.

9. Können Unternehmen in Sachen Komplexitätsmanagement von der Natur lernen – Stichwort Biomimicry, z. B. Ameisen?

Die Schwarmintelligenz ist natürlich in aller Munde. Sobald ein System nach einem festen bestimmenden Muster arbeitet, kann es sehr stabil werden und in Summe höherwertige Lösungen generieren als ein Individuum oder ein Element eines solchen Systems allein. Auf ein Unternehmen bezogen bewegen wir uns in diesem Kontext vor allem auf der kulturellen Ebene.

10. Wie können Unternehmen nachhaltig ein Komplexitätsmanagement verankern?

Der Prozess dazu sollte auf sämtlichen relevanten Ebenen ansetzen. Wie bei jeder Veränderung ist es wichtig, dass die Ergebnisse rational und emotional von allen Beteiligten durchdrungen sowie in der konkreten Arbeit mitgetragen und weiterentwickelt werden. Vor allem der Kultur im Umgang mit Komplexität und der im Buch Complexigence vorgestellten Methodik kommt eine wesentliche Bedeutung zu. Aus unserer Sicht gilt für die Etablierung der Grundsatz, dass innerhalb der ersten 3-6 Monate die Ergebnisse und Erfolge deutlich sichtbar werden müssen.