Christian Keller über die Chancen, die Wissensmanagement der Praxis in den nächsten Jahren bieten kann.

 1. Einen schönen guten Tag Herr Keller. Sie haben auch in diesem Jahr mit der Veranstaltung WissenLive! in Bielefeld wieder viel für den Transfer von Wissensmanagement getan, um dieses Thema einem größeren Kreis in der Praxis zugänglich zu machen. Was sind die Kernthemen der diesjährigen Veranstaltung gewesen?

Man muss bei dem Format WissenLive! verstehen, um was es uns dabei mit Blick auf die Teilnehmer grundsätzlich geht. Wir verfolgen für die Veranstaltung generell den Ansatz „Lernen von den Besten“. Deswegen haben wir einen Wettbewerb vorgeschaltet, um herauszufinden, wer wirklich exzellente Ansätze lebt. Die Award-Gewinner konnten in diesem Jahr sehr vielfältige Erfahrungen einbringen. Als erstes Kernthema ist das Thema Wissenshaus zu nennen. Hierzu hat ein Unternehmen seine konzeptionellen Ansätze und Instrumente für das Wissensmanagement neben der erfolgreichen Anwendung über eine gelungene Visualisierung transportierbar gemacht.
Eine weitere Organisation glänzt mit ihrem exzellenten Weiterbildungsprogramm „Mitarbeiter schulen Mitarbeiter“. Quasi als Exot präsentierte sich eine Waldorfschule, wie sie sich erstmalig mit einem ganzheitlichen Ansatz zum Wissensmanagement auseinandergesetzt hat. Spannend war dabei zu sehen, wie innerhalb der neu gestalteten Wissensorganisation kollaboratives Arbeiten und Entscheidungsfindungen konkret funktionieren.

2. Welche Erfahrungen im Umgang mit Wissen in Theorie und Praxis haben Ihren Zugang und Ansatz zum Thema Wissensmanagement am meisten beeinflusst?

Ich habe mich 2003 als Moderator zum Thema „Wissensbilanz“ ausbilden lassen. Für mich war es eine der prägendsten Erfahrungen, die Methodik kennengelernt, in der Tiefe durchdrungen und in vielen Themenstellungen angewendet zu haben. Im Erleben dieses Prozesses habe ich die große Werthaltigkeit dieses Tools erkannt.
Ein weiteres wesentliches Ereignis im Rahmen der ersten Projekte war für mich die Anfrage eines Unternehmens, was ich für den Kunden generell als Ansatzpunkte zum Wissensmanagement sehe. Zentral war für das Unternehmen das Ausscheiden einer Entwicklungsprojektleiterin. Daraus entwickelte sich ein Fokus auf den Wissenstransfer bei Wechsel von Mitarbeitern. Gerade vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung „pushe“ ich diese Themen, weil ich von der Methodik inhaltlich überzeigt bin und aufgrund des einsetzenden Fachkräftemangels den enormen Bedarf bei den Kunden sehe.

3. Was sind in der heutigen Zeit für die Unternehmen Treiber für Investments in Wissensmanagement?

Technologie ist selbstverständlich ein wesentlicher Treiber im Sinne von „Collaboration“. Hier wird sich noch sehr viel verändern. Mit dem Glauben an ein Tool allein in einer verstaubten Organisation Veränderungen erreichen zu können, funktioniert natürlich nur sehr begrenzt.
Ein weiterer Treiber ist der Wissensverlust wie bereits angesprochen im Zusammenhang mit der demographischen Entwicklung.
Als dritter Faktor ist das Thema Fachkräftemangel zu nennen. Die Unternehmen müssen nicht nur mittels Label attraktiv sein, sondern nachhaltig. Hier greift mein ganzheitlicher Ansatz. Die exzellentesten Unternehmen verfolgen dazu inzwischen sehr systematisch ein Employer Branding in dem Sinn, dass die Besten bei den Besten arbeiten sollen. Dies ist Arbeitgeber-Attraktivität nach außen und innen. Der O-Ton solch attraktiver Unternehmen ist dann „Unsere Mitarbeiter können jederzeit vom Markt aufgesaugt werden, aber sie wissen, was sie hier haben. Nur bei uns können sie so arbeiten, wie sie gern arbeiten möchten.“

4. Was ist für Sie der Kern von Wissensmanagement 2.0?

Ich kann eigentlich mit 2.0 nichts anfangen. Es gibt für mich kein klares 1.0 und kein 2.0. Der mit 2.0 adressierte Kern ist: gemeinsam mit den Mitarbeitern an der Organisationsentwicklung zu arbeiten. In diesem Prozess stellt sich das Unternehmen konsequent selbst in Frage und strebt danach, sich im Sinne stärkerer Hebel zu optimieren. Es sind die beiden Fokus-Themen „Wertschätzung der Mitarbeiter generell“ und „Transparenz“, die den Kern ausmachen. Transparenz ist ganz wesentlich, damit Mitarbeiter sich ernst genommen fühlen und ihre Ansatzpunkte kennen, in welche Richtungen sie überhaupt denken sollen. Das sehe ich bei den exzellenten Wissensorganisationen und würde ich auch mit dem Begriff 2.0 verbinden.

5. Was zeichnet exzellente Wissensorganisationen aus?

Exzellente Wissensorganisationen haben in der Regel interessante Lösungen für Themen. Diese sind jedoch meist gar keine hervorstechend zu vermarktende Lösungen, sondern eher einfach im Sinne der konkreten Umsetzung. Die Lösungen sind wesentlich von der Motivation und Überzeugung der Mitarbeiter getragen. So hat z.B. ein Kunde sein klassisches und eher unter die Räder gekommenes betriebliches Vorschlagwesen dadurch neu aufgestellt, indem die Mitarbeiter zu ihren eingereichten Ideen nun immer innerhalb von zwei Wochen eine Bewertung Ihres Vorschlags erhalten.

6. Wie können Unternehmen den Überblick über komplexe Wissens-Strukturen behalten? Welche Methoden gibt es?

Diese Frage ist sehr facettenreich. Über welch ein Wissen reden wir überhaupt? Wir haben hierzu einzelne Wissenskategorien für den Wissenstransfer definiert wie z.B. Fachwissen, Personenwissen, Projektwissen, Führungswissen etc. – je nach Kategorie müsste ich unterschiedliche Antworten geben. Fachwissen gehört z.B. in ein dynamisches Content-Management-System. Wenn ich Richtung Zukunft schaue, sehe ich in der Semantik bzw. semantischen Suchsystemen einen großen Faktor. Klassisch ist aber auch eine organisatorische Lösung wie das Pooling von Wissen über Rollen zu nennen.

7. Wie beeinflusst die zunehmende Globalisierung von Unternehmen die Anforderungen an ein Nutzen bringendes Wissensmanagement?

Globalisierung ist letztlich ein Stück Dezentralisierung, nur eben größer und kombiniert mit den Themen Sprache und Kultur. Ich sehe bei den international agierenden Unternehmen in der ersten Phase zum Aufbau von Wissensmanagement erst einmal primär den Tooleinsatz, um über Technologien Transparenz zu wesentlichen Strukturen wie Organisation, Prozessen, Rollen und Mitarbeiter zu schaffen.

8. Welchen Anteil hat die Technik, welchen der „Wissensarbeiter“ bei den neuen Ansätzen im Wissensmanagement?

Der Wissensarbeiter von heute ist mega-Technologie-affin, d.h. er kann ohne Technologie eigentlich gar nicht arbeiten. Seine gesamte Informationsversorgung ist sehr Plattform-getrieben. Der „alte“ Wissensarbeiter fragt den Kollegen, den er zu bestimmten Themen für kompetent hält, d.h. googln und recherchieren bringt ihn nicht weiter. Im Fazit heiß dies, dass sich bei den neuen Ansätzen im Wissensmanagement die Technologie gar nicht mehr von den Vorgehensweisen und Prozessen trennen lässt.

9. Wie können Unternehmen nachhaltig Wissensmanagement etablieren?

Sicherlich spielt hier die Grundhaltung eine ganz wesentliche Rolle: Nach welchen Werten und Regeln möchte ich arbeiten. Dies manifestiert sich in den Organisationen meist durch gute Führung. Gleichzeitig ist das Überprüfen der Räderwerke, ob man immer noch auf dem richtigen Weg ist, ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die nachhaltige Implementierung.

10. Was sehen Sie an Innovationen im Wissensmanagement im Jahr 2030?

17 Jahre ist ein sehr langer Zeitraum. Der Prozess zum Explizieren von Wissen wird auf jeden Fall smarter werden. Meine Vision ist, dass ein System erfragt, warum machst Du das eigentlich? Zu solchen Ansätzen wird die Kognitionsforschung noch einen großen Beitrag leisten. Wenn man sich z.B. ansieht, wie ungelenk sich Roboter heute immer noch bewegen, dann erkennt man, welche Sprünge hier noch möglich sein können.
In der nächsten Zeit wird sich nach meiner Einschätzung aber auch die Selbststeuerung des Wissensarbeiters verändern. Neben der Vermeidung von Selbstausbeutung steht ein stärkerer Fokus auf den Anwendungsbezug an, also eine individuelle Wissensstrategie. Hier wird es ein Korrektiv geben. Das Thema Burn-Out macht hierzu u.a. den Handlungsdruck deutlich. Die Menschen werden viel bestrebter sein, das für sie in der Anwendung relevante Wissen aufzubauen bzw. entsprechende Zugänge über Kooperationen zu erlangen.